25. KAPITEL

Ami nickte auf der Fahrt nach Hause zweimal ein, aber die Furcht war stärker als ihre Erschöpfung. Schließlich hielt der Streifenwagen vor ihrem Haus. Ami und Ryan wohnten in einem Bauernhaus, das von dichten Wäldern umgeben war. Es hatte eine malerische Veranda mit einer Hollywoodschaukel, in der Chad und sie in warmen Sommernächten gesessen hatten, wenn Ryan bereits im Bett lag. Tagsüber glich die Szenerie einer idyllischen Postkarte. Doch als Ami an diesem Abend die Wälder betrachtete, die sie so gern malte, sah sie nur dunkle Schatten, in denen Mörder lauerten.

Einer der Beamten hielt Wache, während Ami im Wagen wartete. Der andere schloss mit Amis Schlüssel die Haustür auf. Als er sich überzeugt hatte, dass sich niemand im Haus befand, führten die beiden Polizisten sie hinein. Während Ami nach oben ging und sich für die Nacht fertigmachte, bezog der eine Beamte Posten im Wohnzimmer. Der andere lief draußen Patrouille. Nachdem sie sich geduscht hatte, fühlte sich Ami besser. Sie bezweifelte allerdings, dass sie einschlafen konnte. Eine Weile hielten ihre aufgewühlten Gedanken sie auch wach, aber sie war körperlich und psychisch so ausgelaugt, dass sie schon bald eindöste.

Ami schlug ruckartig die Augen auf und warf einen müden Blick zur Uhr auf ihrem Nachttisch. Es war Viertel vor zwei morgens, in ihrem Schlafzimmer war es stockfinster. Ein dumpfer Schlag hatte sie aus ihrem tiefen Schlummer gerissen, aber sie war nicht sicher, ob sie das vielleicht geträumt hatte.

Sie setzte sich auf und lauschte. Sie hörte nichts außer dem Ticken der Standuhr unten im Flur. Chad hatte diese Antiquität geliebt. Das metallische Klacken der Zeiger war nachts deutlich zu hören und hatte Ami immer gestört, aber sie brachte es einfach nicht über sich, die Uhr nach Chads Tod wegzugeben. Nun war dies das einzige Geräusch, das sie wahrnahm. Sie hatte sich gerade eingeredet, dass der Schlag, der sie geweckt hatte, ihrer Phantasie entsprungen war, als eine Bodendiele knarrte.

Jemand schlich die Treppe hoch und versuchte dabei, möglichst kein Geräusch zu machen. Ami sprang aus dem Bett. Ihr Herz hämmerte fast schmerzhaft in ihrer Brust, als ihr wieder einfiel, dass ein Polizist im Haus war. Sie schalt sich eine Närrin, als der Türknopf sich drehte.

Ami hastete zur Tür und stemmte sich dagegen. Der Knopf drehte sich nicht weiter.

»Wer ist da?«

Die Holztür zersplitterte. Scharfe Splitter drangen in Amis Haut, und eine Kante der Tür prallte gegen ihre Stirn. Sie fiel rücklings aufs Bett. Ein Schatten beugte sich über sie. Der Mann war ganz in Schwarz gekleidet und verschmolz fast mit der Dunkelheit. Er hob ein bedrohlich aussehendes Messer, dessen gezackte Schneide im Licht des Mondes funkelte, der plötzlich hinter einer Wolke auftauchte. Ami rollte sich vom Bett auf den Boden. Im selben Moment wurde sie gewaltsam an den Haaren hochgezogen. Der Schmerz war fast unerträglich. Sie schrie, und der Griff an ihrem Haar lockerte sich. Ami rollte auf den Rücken und hob abwehrend die Hände. Ihr Angreifer brach auf ihr zusammen. Ami schrie wieder, während sie versuchte, das Gewicht von sich zu stoßen, das sie auf den Boden drückte. Der Killer schlug jedoch nicht mehr zu und rührte sich auch kaum. Ami blickte über seine Schulter und sah einen zweiten Mann, dessen Gesicht unter einer ähnlichen Gesichtsmaske verborgen war, wie der erste Angreifer sie trug. Ami schob sich unter dem Mann hinaus, bis sie mit dem Rücken an die Wand stieß.

»Ich bin's«, sagte eine bekannte Stimme.

Der Mann zog die Skimaske herunter. Über ihr stand Carl Rice. Er hielt ein großes, blutverschmiertes Messer in der rechten Hand. Carl bemerkte ihren Blick und legte es auf den Boden.

»Ich tue Ihnen nichts. Ich habe im Radio von dem Mord an Dr. French gehört und wusste, dass man versuchen würde, Sie umzubringen.«

Ami schaffte es kaum noch zu atmen.

»Kommen Sie! Ich helfe Ihnen«, sagte Carl.

Er zog Ami auf die Füße. Sie schlug einen Bogen um die Leiche, damit sie den Toten nicht berührte, aber sie konnte den Blick nicht von ihm losreißen.

»Wer ist das?« fragte Ami, obwohl sie fürchtete, dass sie die Antwort bereits kannte.

»Einer von Wingates Leuten.«

»O nein«, stöhnte Ami. Die Vorstellung, dass eine so mächtige Person wie Wingate ihr nach dem Leben trachtete, überwältigte sie beinahe.

»Das war wirklich der denkbar ungünstigste Zeitpunkt, wieder von den Toten aufzuerstehen«, erklärte Carl. »Wingate kann sich ausrechnen, dass die Polizei mich irgendwann wegen des Mordes an General Rivera und an Glass sucht. Er fürchtet, dass ich die Informationen über diese geheime Einheit im Austausch gegen eine Strafverminderung ausplaudern könnte. Sollte Präsident Jennings eine genauere Untersuchung über die Einheit einleiten, gehen Wingates Hoffnungen auf das Amt des Präsidentschaftskandidaten den Bach runter. Deshalb musste Dr. French sterben. Wingate wollte herausfinden, was ich Ihnen und dem Arzt erzählt habe und wer noch davon weiß. Ami, haben Sie der Polizei von unseren Gesprächen erzählt?«

Als er die Polizei erwähnte, fielen Ami ihre Aufpasser ein.

»Was ist mit den beiden Beamten passiert, die ... ?«

Carl schüttelte den Kopf. »Ich bin zu spät gekommen.«

»Diese armen Männer! Sie wollten mir nur helfen.« Sie fing an zu schluchzen. Carl packte ihren Oberarm. »Sie müssen sich zusammenreißen. Wir haben für so was keine Zeit.«

»Wir haben keine Zeit?« schrie Ami. Ihr Zorn fegte ihre Verzweiflung weg. »Sie sind an allem schuld! Die Männer würden noch leben, wenn Sie nicht da gewesen wären.«

»Und Sie wären tot«, antwortete er ruhig. »Das sind Sie vielleicht sowieso bald, wenn wir weiter herumstehen und uns streiten, wer wofür verantwortlich ist. Wenn Wingates Männer sich nicht bald melden, schickt er andere. Und jetzt sagen Sie mir, was Sie der Polizei von der Einheit erzählt haben.«

»Die Polizei weiß nichts. Ich habe Ihnen gesagt, dass alles, was sie mir anvertraut haben, unter meine Schweigepflicht fällt.« Plötzlich schoss ihr das Bild von George Frenchs misshandelten Leichnam durch den Kopf, und sie schüttelte sich.

»Wingates Männer müssen wissen, was Sie uns gesagt haben. Dr. French wurde genauso gefoltert, wie Sie Eric Glass gefoltert haben.«

»Hält die Polizei mich für den Mörder von French?«

Ami nickte. »Ich habe die Fotos vom Tatort in Lost Lake gesehen. Ich dachte ...«

»Natürlich. Was hätten Sie auch sonst denken sollen?«

Carl legte Ami die Hände auf die Schultern. »Es gibt nur eine Möglichkeit, wie Sie sich retten können. Sie müssen diesem Staatsanwalt, Kirkpatrick, von dieser Einheit erzählen. Wingate hat keinen Grund mehr, Sie umzubringen, wenn noch andere Leute meine Geschichte kennen. Ziehen Sie sich an! Ich bringe Sie zum Polizeihauptquartier und setze Sie dort ab.« Rice deutete auf die Leiche. »Er ist Ihr Beweis.«

Ami ergriff ein paar Kleidungsstücke und Turnschuhe und ging ins Bad, während Carl den Toten durchsuchte. Als sie herauskam, hielt er eine Pistole in der Hand, die er dem Killer abgenommen hatte

Er führte Ami im Dunkeln die Treppe hinunter und zur Hintertür. Sie schlugen einen Bogen durch den Wald, der an ihr Grundstück angrenzte, und kamen auf einem Schotterweg heraus, etwa eine Viertelmeile von ihrem Haus entfernt. Ami sah in der Finsternis die Umrisse eines Wagens. Carl zielte mit einem Laserstift auf die Windschutzscheibe und schaltete ihn einmal kurz ein und aus. Der Motor wurde angelassen, und Carl lief mit Ami im Schlepptau zum Wagen. Ami sprang auf den Rücksitz, und Carl glitt auf den Beifahrersitz. Vanessa gab Gas.

»Wir setzen Ami am Polizeihauptquartier ab«, erklärte Carl.

Vanessa wollte gerade antworten, als Ami auf den Weg deutete. »Was ist das?«

Ein Wagen schoss mit ausgeschalteten Scheinwerfern auf sie zu. Carl öffnete das Fenster und feuerte über die Motorhaube. Ein Schuss aus dem anderen Fahrzeug erwischte einen von Vanessas Scheinwerfern. Carl feuerte wieder, und die Windschutzscheibe des anderen Wagens zersplitterte. Fast im gleichen Moment kam er schlingernd vom Weg ab. Als sie an dem Wagen vorbeirasten, sah Ami eine zusammengesunkene Gestalt auf dem Fahrersitz.

»Fahr weiter!« befahl Carl. Vanessa trat das Gaspedal durch, und Ami wurde in die Polster zurückgedrückt.

Zwei Männer waren aus dem Wagen gesprungen und eröffneten das Feuer. Carl drückte Ami zu Boden, als eine Kugel funkensprühend vom Kofferraum des Wagens abprallte. Ami rollte hilflos auf dem Boden hin und her, während Vanessa den Wagen aus der Reichweite der Pistolen steuerte.

»Sie können sich wieder hinsetzen«, erklärte Carl, nachdem er sich überzeugt hatte, dass sie in Sicherheit waren.

»Wohin fahren wir, wenn wir Ami abgesetzt haben?« wollte Vanessa wissen

»Keine Ahnung«, gab Carl zu. »Wir müssen uns irgendwo verstecken, bis die Fahndung eingestellt wird. Dann überlegen wir uns, wie wir außer Landes kommen.«

»Ich hätte da eine Idee«, meinte Ami. »Als ich noch in meiner alten Firma gearbeitet habe, habe ich mit zwei anderen Pärchen eine Blockhütte gekauft. Sie liegt an der Küste. Ich bin ziemlich sicher, dass dieses Wochenende niemand da ist. Sie können dort bleiben.«

»Danke für das Angebot, aber ich verzichte«, sagte Carl.

»Warum? Die Hütte liegt ziemlich einsam. Niemand wird dort nach Ihnen suchen.«

»Wenn die Polizei herausfindet, dass Sie uns geholfen haben, wird man Sie verhaften. Das will ich nicht riskieren.«

»Sie haben mir gerade das Leben gerettet, Carl. Ich wäre tot, wenn Sie nicht da gewesen wären.« Ami nahm den Schlüssel von ihrem Schlüsselring. »Das nehme ich gern für jemanden in Kauf, der ein viel größeres Risiko für mich eingegangen ist. Verstecken Sie sich in dem Blockhaus!«

Die Schuld wird nie vergehen
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